Dipl.-Ing. (FH) Anne-Katrin Franken gehört zu den Kammermitgliedern, die bereits in den ersten Tagen nach der Katastrophe freiwillige Nothilfe geleistet haben. Mit dem Kammer-Spiegel sprach die Ingenieurin, die in Bonn arbeitet, aber im Ahrtal lebt, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse.
IK-Bau NRW
Frau Franken, wo waren Sie im Einsatz?
Anne-Katrin Franken
Ich arbeite in Bonn, habe in Nordrhein-Westfalen studiert und bin entsprechend
Mitglied der IK-Bau NRW. Und ich lebe in der Nähe des rheinland-pfälzischen
Ahrtals und war auch dort im Einsatz.
IK-Bau NRW
Ab welchem Zeitpunkt war Ihnen das Ausmaß der Katastrophe bewusst?
Anne-Katrin Franken
Wir wohnen an der Zufahrtsstraße zum südlichen Ahrtal und seit der Nacht von
Mittwoch, den 14. Juli, auf Donnerstag haben wir ununterbrochen
Einsatzfahrzeuge vorbeifahren hören. Da ahnten wir, dass etwas Schlimmeres
passiert sein musste. Bei uns selbst ist der Strom ausgefallen und wir haben
Freunde in der direkt betroffenen Zone telefonisch nicht erreicht. Am nächsten
Morgen ist mein Mann gleich los. Er besitzt ein Handwerksunternehmen und hat
sich mit einem Bagger an den ersten Aufräumarbeiten beteiligt. Über meinen Mann
erhielt ich Berichte aus erster Hand. Sehr bald erfolgte auf Initiative aus der
Bevölkerung ein Rundruf über soziale Medien an verfügbare Statiker in der
Region. Unmittelbarer Anlass war, dass die Menschen in den betroffenen Orten
vielfach unter Schock standen und nach dem Rückgang des Wassers in ihre zum
Teil einsturzgefährdeten Häuser liefen, um ihr Hab und Gut zu bergen. An dieser
Stelle war es elementar, dass Statiker schnellstens vor Ort waren, die
beurteilen konnten, ob man ein Haus unmittelbar betreten darf oder nicht.
IK-Bau NRW
Welches Schadensbild hat sich Ihnen gezeigt im Hinblick auf Privatbauten und im
Hinblick auf die öffentliche Infrastruktur?
Anne-Katrin Franken
Es war ein Bild von Chaos und Zerstörung. Die Straßen, oder das was von ihnen
übrig war, standen voller Menschen und alles war von einer dicken
Schlammschicht bedeckt. Es war zunächst entsprechend schwierig, einen Überblick
über das Ausmaß der Schäden zu gewinnen. Manche Häuser waren zur Hälfte einfach
weg. Eingebrannt hat sich das Muster fehlender Ziegel auf ansonsten nicht
beschädigten Dächern. Durch diese Löcher in den Dächern haben die Menschen
während der Flut Zuflucht auf ihren Häusern gesucht. Da die Straßen entweder
unter Schlamm begraben oder zerstört waren, haben wir versucht, uns mit
Google-Maps zu orientieren. In Zweiergruppen, um das Vier-Augen-Prinzip zu
wahren, sind wir von Haus zu Haus gegangen. Manchmal waren die Probleme
offensichtlich: Beispielsweise, wenn eine ganze Außenwand fehlte. Ansonsten
haben wir die Bewohner befragt, nach charakteristischen Auffälligkeiten
gesucht, auf statisch kritische Risse geachtet und geprüft, ob das Fundament
unterhalb der Gründungsebene freigelegt war. Wir haben auch immer versucht, in
die mit Schlamm gefüllten Keller zu gehen, um dort nach Rissen, verschobenen
Kellerwänden und Decken zu schauen. Insbesondere der Zustand der Fundamente war
jedoch wegen der Schlammmassen nur schwer zu beurteilen. Unsere erste Aufgabe
war es deshalb, die akute Frage der Standsicherheit zu klären. Wenn ein
potenziell unterspültes Fundament durch Schutt und getrockneten Schlamm für den
Moment eingebunden war, dann hat uns das zunächst genügt. Manchmal waren die
Schäden glücklicherweise auch weniger gefährlich, als die Bewohner befürchtet
hatten: Beispielsweise, wenn sich der vermeintliche Einbruch einer
Geschossdecke als herabhängende Abhangdecke entpuppte. Andererseits waren bei
den vielen Fachwerkhäusern im Ahrtal die Geschossdecken häufig stark
durchgebogen. Die Gebäude zu betreten, obwohl eine dicke Schicht nasser Schlamm
auf den durchgebogenen Decken lag, wäre für die Bewohner und die vielen
freiwilligen Helfenden sehr gefährlich gewesen. Doch nicht nur die Wohnhäuser,
auch die öffentliche Infrastruktur war schwer beschädigt. Die meisten Brücken
waren weg oder offensichtlich nicht mehr befahrbar, viele Straßen zerstört und
die Strommasten verschwunden.
IK-Bau NRW
Wie viel der geschädigten Bausubstanz kann grob geschätzt langfristig erhalten
bleiben?
Anne-Katrin Franken
Nicht wenige Häuser sind schlicht zerstört und müssen abgerissen werden. Die
Mehrheit der Wohnhäuser kann man jedoch erhalten. Diese Gebäude müssen, nachdem
der kontaminierte Schlamm entfernt wurde, zunächst komplett entkernt werden.
Aber die Grundsubstanz kann man trocknen und erhalten. Selbstverständlich gilt
es, die Fundamente wieder ordentlich herzustellen und einzubinden. Aber
schließlich müssten gar nicht so viele Häuser aufgegeben werden, auch nicht von
den vielen Fachwerkhäusern. Ich plädiere für den Erhalt der meisten Gebäude,
selbst wenn der Neubau in einigen Fällen vordergründig kostengünstiger wäre.
Denn der Erhalt ist ökologisch oft sinnvoller als ein Neubau. Auch wären die
Folgen für das baukulturelle Erbe des Ahrtals kaum abzuschätzen, würden
großflächig historische Gebäude abgerissen und durch moderne Massivbauten
ersetzt. Viele werden trotz des Risikos wieder in ihre alten Häuser ziehen
wollen und man wird die Menschen, die sich so entscheiden, davon auch
baurechtlich nur schwer abbringen können. Aber natürlich ist es eine Option,
den Menschen, die die unmittelbaren Risikozonen verlassen wollen, alternative,
weniger gefährdetere Baugebiete, anzubieten. Die dann frei werdenden Flächen an
der Ahr sollten dann auch frei bleiben.
IK-Bau NRW
Wie war der Anteil von Fachwerk- und Massivbauten in Ihrem Einsatzgebiet und
gab es unterschiedliche Muster in den Schadensbildern?
Anne-Katrin Franken
Ziemlich gemischt, in den Ortskernen gibt es noch einen großen Anteil von
Fachwerkbauten. Ein Muster ließ sich in den Schadensbildern aber gerade nicht
erkennen. Den Unterschied machte eher die Lage als die Bauart eines Gebäudes:
War es unmittelbar der Flut oder vermeintlich nur dem Hochwasser ausgesetzt?
Manche Häuser wurden von schwimmenden Bäumen, Fahrzeugen oder mitgeschwemmtem Schutt
getroffen, andere nicht. Hier lag vermutlich der größte Unterschied im
Schadensbild.
IK-Bau NRW
Wie haben Sie bei Ihrem Einsatz Unterstützung erfahren, was hat die Hilfe
vielleicht eher gehemmt?
Anne-Katrin Franken
Die schnellste Hilfe ging klar von Menschen vor Ort aus. Gerade die erste
unbürokratische Unterstützung der Landwirte, Handwerker und auch überregional
angereisten Helfenden hat den betroffenen Menschen das wichtige Signal
gesendet: Wir packen mit an und hören euch zu. Grundsätzlich lässt sich sagen,
dass Hilfe dann am nächsten und schnellsten bei den Betroffenen war, je näher
die Entscheidungsebene bei den Menschen vor Ort lag. Die Hilfe wurde dann auch
in unserem Fall unbürokratisch über eine private Messenger-Gruppe organisiert.
Die öffentliche Verwaltung war zunächst gar nicht beteiligt, hat sich aber
später durch die Eigeninitiative vorwiegend jüngerer Mitarbeiter der
Kreisverwaltung eingeklinkt. Meine persönliche Erfahrung war: Je kürzer die
Wege, desto besser. Vielleicht können die neuen Medien hier künftig auch von
öffentlicher Seite noch effizienter eingesetzt werden, um Ingenieure bzw.
Tragwerksplaner und Hilfesuchende schnell und ohne Umwege zusammenzubringen.
Nach meiner Erfahrung war das Internet im Flutgebiet an der Ahr zumindest
stellenweise verfügbar. Ein großes Problem für uns ehrenamtlich Helfende war
der Versicherungsschutz. Ich habe direkt am Wochenende versucht zu klären, ob
meine Berufshaftpflichtversicherung auch im Fall freiwilliger Nothilfe gilt.
Aber die erste Rückmeldung war negativ. Selbstverständlich haben wir auch ohne
Versicherungsschutz geholfen. Aber das persönliche Risiko ist dann natürlich
enorm und es wäre wünschenswert, wenn man dieses Risiko künftig
gemeinschaftlich auffangen könnte.
IK-Bau NRW
Wie sollte man in den gefährdeten Gebieten künftig bauen?
Anne-Katrin Franken
Man kann die Versickerungsflächen vergrößern, weniger Böden versiegeln, dort wo
dies möglich ist. Man kann Dächer begrünen etc. Aber ehrlicherweise muss man
zugestehen, dass all diese Maßnahmen im Ahrtal aufgrund der Topografie nur
einen geringen Effekt gehabt hätten. Deshalb muss man auf ein besseres
Warnsystem bauen, dass es ermöglicht, vor allem die Menschen, aber auch mobile
Gegenstände rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu entfernen. Denn gerade
Fahrzeuge und andere Objekte haben, als sie von der Flutwelle erfasst wurden,
zur Beschädigung und Zerstörung vieler Häuser beigetragen. Das Muster der
Zerstörung erscheint bei oberflächlicher Betrachtung zudem teils sehr
willkürlich. Es wäre sicher ein großer Erkenntnisgewinn, die Ereignisse zu
rekonstruieren und zu simulieren, um zu verstehen, nach welchem Muster die
zerstörerische Kraft der Flut hier gewirkt hat.
IK-Bau NRW
Wie sehen Sie die Verantwortung und die Einflussmöglichkeiten der Ingenieurinnen
und Ingenieure im Bauwesen auf den Klimaschutz? Einerseits im Hinblick auf das
weitere Fortschreiten des Klimawandels und andererseits im Hinblick auf die
bereits spürbaren Auswirkungen der globalen Erwärmung?
Anne-Katrin Franken
Wir haben als Ingenieure eine große Verantwortung, der Bausektor ist ein großes
Gebiet mit enormem Einfluss auf die Umwelt. Es ist wichtig, dass beim Bauen die
Kosten über die gesamte Herstellungs- und Nutzungsdauer eines Gebäudes und
nicht nur die offensichtlichen Baukosten betrachtet werden. Wir müssen uns
schon zu Beginn fragen, was kostet irgendwann der Abbruch und die Entsorgung
der Baustoffe. Diese Frage müssen wir uns auch hinsichtlich des stetig
steigenden Ressourcenverbrauchs stellen. Letztlich ist auch hier die
Eigenverantwortung aller am Bau Beteiligten gefragt, die
gesamtgesellschaftlichen Kosten eines Bauwerks inklusive seiner Ökobilanz zu
betrachten und zu berücksichtigen.
Das Interview führte IK-Bau NRW-Pressesprecher Dr. Bastian Peiffer.
[Erstveröffentlichung im Kammer-Spiegel 10/2021]