Wie wird die Zukunft des Planens und Bauens im Zeitalter von Robotik und künstlicher Intelligenz aussehen? Werden Intelligente Maschine künftig zu Teammitgliedern auf der Baustelle und welche Rolle werden die planenden Berufe künftige im Bauprozess einnehmen? Über diese relevanten Fragen haben wir mit Prof. Dr. Sigrid Brell-Cokcan, der Gründerin und Leiterin des Lehrstuhls für Individualisierte Bauproduktion (IP) an der RWTH Aachen gesprochen.
IK-Bau NRW: Die Digitalisierung der Baubranche verläuft eher langsam. Wie ist aus Ihrer Sicht der Status Quo? Was sind die größten Hindernisse?
Sigrid Brell-Cokcan: Ich habe als Architektin viel mit Bauingenieuren zusammengearbeitet, unter anderem bei Bollinger und Grohmann in Frankfurt und bei Wolfdietrich Ziesel in Wien. Dort haben wir um die Jahrtausendwende bereits die Erstellung von Schalungs- und Bewehrungsplänen digital automatisiert. Prägend für mein Verständnis der Digitalisierung im Bauwesen war dann das Projekt Kunsthaus Graz von Peter Cook und Colin Fournier. Hier zeigte sich mir erstmals die Kluft zwischen digitaler Planung und analoger Umsetzung. Was wir digital und parametrisch geplant haben, wurde dann auf der Baustelle buchstäblich mit dem Hammer in die richtige Richtung geschlagen, beispielsweise die Plexiglashalterungen auf dem Stahlfachwerk. Das Gebäude hat sich in der Praxis nicht so verhalten, wie es die Berechnungen vorhersagten. Bautoleranzen spielten hier eine wichtige Rolle. Nach dieser Erfahrung war mir klar, dass digitale Planung allein nicht ausreicht. Wir müssen vielmehr Planungsdaten so aufbereiten, dass die ausführenden Unternehmen davon bestmöglich profitieren und wir nicht immer wieder die gleichen Informationen für jedes Gewerk neu aufarbeiten müssen. Um den Bogen zu schließen, ist es eines der Hauptaugenmerke unserer Forschung an der RWTH in Aachen, beim Lehrstuhl für Individualisierte Bauproduktion, die Lücken in diesen digitalen Ketten von Planung und Ausführung zu schließen.
IK-Bau NRW: Sie haben es gerade schon angedeutet, aber vielleicht können Sie noch einmal ausführlicher erklären, wie Sie von den beschriebenen praktischen Problemen zu Ihrer Forschungsarbeit heute gekommen sind?
Sigrid Brell-Cokcan: Arbeitsprozesse entwickeln sich oft wellenförmig. Etwa seit dem Jahr 2000 konnte ich diese Entwicklung aus der Nähe beobachten. Damals sind wir Planer vom manuellen Zeichnen auf digitale CAD-Lösungen umgestiegen. Trotz der neuen digitalen Möglichkeiten haben wir die Software zunächst genutzt wie einen analogen Zeichenstift. Inzwischen ist unsere Lernkurve im digitalen Raum, auch wegen der vielfältigen Herausforderungen der letzten Jahre, steil angestiegen. Heute reichen uns die digitalen Tools, die wir zur Verfügung haben, eigentlich gar nicht mehr aus. Es geht derzeit darum, den Übergang von der nicht digitalisierten Gesellschaft zur digitalisierten Gesellschaft zu organisieren. Dieser Übergang wird uns noch für die nächsten 10 bis 20 Jahre beschäftigen. Danach wird die digitale Jugend mit großem Selbstverständnis die digitalen Werkzeuge nutzen, die wir vielleicht heute bereits entwickeln.
IK-Bau NRW: Woran forschen Sie gerade konkret an der RWTH?
Sigrid Brell-Cokcan: Das Internet of Construction ist ein großes Forschungsprojekt, das wir jetzt auf der Referenzbaustelle in Aachen umgesetzt haben. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und gemeinsam mit zehn Partnern aus der Wissenschaft, aber auch der Praxis umgesetzt. Es geht um die Frage, welche Daten und Informationen auf der Baustelle entstehen und wie sie in Wertschöpfungsketten eingebunden sind. Das Ziel ist ein digitales Kollaborationsmodell als Bauinformationsmodell. Wir müssen uns bewusst werden, dass, wenn wir Informationen zu bestimmten Zeitpunkten miteinander tauschen, wir gemeinschaftlich einen Wert erzeugen, von dem alle profitieren können. Wir betrachten dieses Problem von der technischen Seite und wollen herausfinden, welchen Wert man zu welchem Zeitpunkt entlang des Wertschöpfungsprozesses benötigt, um problemlos miteinander kollaborieren zu können.
IK-Bau NRW: Ist der Bausektor Ihrer Einschätzung nach kulturell darauf vorbereitet, solche Entwicklungen anzunehmen? Die Bereitschaft, Wissen zu teilen, ist ja bislang begrenzt.
Sigrid Brell-Cokcan: Ich glaube, die Digitalisierung übt auf den Einzelnen einen so großen Druck aus, dass die Bereitschaft zur Kooperation sehr groß ist. Ich vergleiche die Lage heute gerne mit der Situation in Österreich im Jahr 2003. Damals ist hier die HOAI gefallen, was gerade für junge Architektinnen und Architekten ein großer Nachteil war. Aber wir konnten das wettmachen, indem wir uns in Arbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen haben. Auch auf die Herausforderungen der Digitalisierung können solche Kollaborationen oder Arbeitsgemeinschaften eine Antwort sein. Ein Beispiel ist BIM: Bei vielen Ausschreibungen wird BIM künftig eine verbindliche Anforderung sein. Muss deshalb jeder ein BIM-Spezialist werden? Ich glaube nicht. Vielmehr könnte eine Arbeitsgemeinschaft auch hier eine Lösung sein, bei der jeder Spezialist für ein bestimmtes Aufgabengebiet verantwortlich ist. Als Gast des diesjährigen Ingenium in Dortmund habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Ingenieurkammer bei diesem Thema eine sehr positive Rolle spielen kann. Es wird auch viele junge treibende Kräfte geben, die die aktuellen Technologiesprünge als eine Chance sehen. Auch beim Thema Robotik ist der Zugang in Architektur- und Bauingenieur-Fakultäten leicht geworden. Diese neue Technologie ermöglicht vielen jungen Architekten oder jungen Ingenieuren die Möglichkeit, Startups zu gründen und dann plötzlich auf Augenhöhe mit Star-Architekten zusammenzuarbeiten.
IK-Bau NRW: Sind die Curricula u. a. im Bauingenieurwesen auf die neuen digitalen Möglichkeiten und Herausforderungen ausreichend ausgerichtet?
Sigrid Brell-Cokcan: Im Jahr 2010 wurde als Spin-off der TU Wien die "Association for Robots in Architecture" gegründet. Die Association hat heute 250 Mitglieder weltweit, darunter über 100 führende Universitäten. Wir gehen davon aus, dass wir weltweit pro Jahr etwa 30.000 Architekturabsolventen und mittlerweile auch einige Bauingenieurabsolventen haben, die über Robotik-Know-how verfügen. In weltweiter Perspektive ist das eine sehr große Zahl an Fachkräften, die in den Anfangsjahren jedoch von Technologie-Tycoons wie Google absorbiert wurden. Diese Absolventen sind begehrt, weil sie Kreativität und technisches Know-how verbinden. Sie haben die Chance, Neues zu entwickeln. Als Architekten und Ingenieure sollten wir uns nicht nur für die gebaute Umwelt verantwortlich fühlen, sondern auch für die digitale Umwelt. Wir sollten die Gestaltung des digitalen Raumes nicht den weltweiten Daten-Plattformen überlassen. Unser Auftrag ist es, sowohl die Arbeitswelt als auch die Wohnumwelt mitzugestalten. In der Startup-Szene gibt es sehr viele gut ausgebildete Ingenieurinnen und Ingenieure, die durch den Zusammenschluss mit anderen Fachdomänen in der Lage sind, nicht nur das Bauen, sondern auch Technologisierung der Gesellschaft voranzutreiben. Ich möchte nicht, dass in Zukunft Google Häuser baut oder, wie wir schon beobachten mussten, Automobilkonzerne wie Toyota beginnen, Häuser zu bauen.
IK-Bau NRW: In anderen Branchen, die früher und umfassender digitalisiert wurden, kamen die wirklich disruptiven Kräfte, die den Markt revolutioniert haben, oft von außerhalb der Branche. Droht dem Bausektor ein ähnliches Schicksal? Ich denke hier beispielsweise an das österreichische Unternehmen Gropyus, das das serielle Bauen revolutionieren möchte und deren Macher zuvor für Delivery Hero und Zalando gearbeitet haben.
Sigrid Brell-Cokcan: Es gibt auch in den USA zahlreiche Startups wie z. B. Katerra, die wahnsinnig gehypt werden, aber dann krachend gegen die Wand fahren. Venture Capital bzw. die Erfahrung aus anderen Technologiedomänen sind somit noch kein bewährtes Erfolgsrezept. Ich trete vehement für die Trennung von Planung und Ausführung ein. Der Ingenieur oder Architekt sollte gemäß seiner Expertise kein Zuarbeiter, sondern für die Gesamtkoordination zuständig sein. Das heißt aber auch, dass im Zuge der Digitalisierung eine zukunftsorientierte Ausbildung gewollt werden muss, um das Wissen zu Start Ups, Venture Capital und Technologieentwicklungen zu integrieren. Ich kämpfe an der RWTH dafür, dass wir uns nicht in die Rolle des Entwurfsarchitekten zurückdrängen lassen, sondern dass wir bei unserem entworfenen Gebäude bis zur Schlüsselübergabe alle Aufgaben und Herausforderungen, die den Bauherrn und die Ausführenden beschäftigt, mitdenken und mit lösen. Und wir sind eben nicht nur da, um irgendwelche Fliesen aussuchen oder ähnliches. Ich sehe es sehr kritisch, wenn Architekten und Ingenieure, wie in den Niederlanden zu beobachten ist, als Subunternehmer von Baufirmen arbeiten. Die unabhängige Position eines Ingenieurs und eines Architekten ist für mich ein Wert, der erhalten werden sollte und dafür braucht dieser Berufsstand auch durchwegs neues Wissen, um diese Position zu verteidigen. Im Hinblick auf das serielle Bauen stellt sich die Frage, wie oft werden wir noch auf der grünen Wiese bauen? Die Herausforderungen bestehen darin, Ressourcen zu schonen, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren und den Bestand nachhaltig zu sanieren. Und hier sehe ich die unabhängige Arbeit von Ingenieuren und nicht von Firmen, die ein Interesse haben, ihre Modulbauten auf der grünen Wiese zu verkaufen.
IK-Bau NRW: Wie sind Sie zu dem Thema Robotik gekommen?
Sigrid Brell-Cokcan: Zur Robotik bin ich eigentlich wie durch einen Unfall gekommen. Bei einem Forschungsprojekt an der TU Wien haben wir versucht, mit geringen Mitteln eine CNCBearbeitung in Angriff zu nehmen. Die Maschine, die wir ausgeschrieben hatten, brachte nicht die erforderliche Leistung, und die einzig vergleichbare Maschine im Jahr 2006 war zufällig ein Roboter, der ein Autochassis bei einer Messe gefräst hatte. Wir haben uns somit gedacht, wenn ein Roboter fräsen kann, dann können das alle anderen vielleicht auch. Wir haben uns dann mit Roboterherstellern auseinandergesetzt, und die einzige Firma damals, die nachweisen konnte, dass sie in Zukunft eine Schnittstelle entwickeln will, um G-Code einzulesen, war die Firma Kuka. Wir haben dann mit hohem Risiko einen Roboter gekauft, der keine Fräsdaten lesen konnte. Zwar haben wir dann ein Jahr später eine erste Software erhalten, aber auch diese erschien uns verbesserungswürdig. Also haben wir selbst begonnen, aus dem CAD heraus durch Reverse Engineering Roboter anzusteuern. Kurz gesagt, es war eine reine Notsituation. Wir wollten eigentlich eine Fünf-Achs-Fräse kaufen und hatten nicht genügend Budget.
IK-Bau NRW: Das waren also die Anfänge. Wie hat sich das Ganze entwickelt, und wo stehen Sie heute?
Sigrid Brell-Cokcan: Formel-1-Fans kennen vielleicht das Wahrzeichen der Rennstrecke in Spielberg, einen durch einen Ringbogen springenden Bullen aus Stahl. Dieser Bogen war unser allererstes Projekt. Die Künstler sind damals auf uns zugekommen. Sie hatten aus der Automobilindustrie einen gebrauchten Roboter gekauft und wollten nun wissen, wie sie ihre Daten an die Maschine senden können. Wir haben die beiden unterstützt, und der Ring wurde dann im Lost-Foam-Verfahren mit einem Aluguss gefertigt. Wir konnten anhand dieses Projekts zeigen, dass Menschen plötzlich die Möglichkeit haben, mit Robotik zu arbeiten, ohne jegliches Vorwissen und Programmierausbildung.
IK-Bau NRW: Der SPIEGEL zitiert Sie mit der Aussage, dass Ihre Roboter im Grunde eigene Entscheidungen fällen und dass dies der traditionell denkenden Baubranche derzeit noch zu weit geht. Wie muss man sich das vorstellen, dass der Roboter eigene Entscheidungen trifft?
Sigrid Brell-Cokcan: Vor 15 Jahren ging es zunächst darum, die Arbeitsumgebung der Architekten und Ingenieure überhaupt an die Robotik anzubinden. Heute fragen wir uns, kann der Roboter auf der Baustelle auch ein gleichberechtigtes Teammitglied sein? Früher haben wir nur in eine Richtung Informationen geschickt, nämlich von unserer CAD- und Arbeitsumgebung zum Roboter. Mittlerweile sammelt der Roboter über verschiedene Sensoren selbst Informationen und Daten. In unserem Forschungsprojekt "Internet auf Construction" fragen wir uns deshalb, ob ein Baukran nur Lasten heben kann oder ob er auch ein Logistiker sein kann. Amazon hat mit seinem Regalsystem vorgemacht, wie man das automatisierte Suchen und Finden von Paketen organisiert. Übertragen auf die Baustelle stellt sich die Frage, wie man dort das automatisierte Suchen und Finden von Bauteilen und Werkzeugen organisiert. Tatsächlich ist dies eines der größten Probleme auf der Baustelle. 30 Prozent der Zeit auf der Baustelle werden mit dem Suchen verschwendet. Dabei beobachten wir auf der Baustelle meist sehr dynamische Situationen. Der Bauleiter hat ein intrinsisches Interesse daran zu wissen, wann Bauteile auf der Baustelle ankommen, wo sie sich aktuell befinden, ob sie zum richtigen Platz gehoben wurden und ob sie eingebaut werden können. Bei all diesen Informationen können uns zukünftig Baumaschinen perfekt unterstützen. Unsere Frage ist, wie wir diese Daten für den Menschen gewinnbringend auswerten können. Das Ziel ist es, dem Bauleiter beispielsweise möglichst viele Assistenzsysteme zur Verfügung zu stellen, damit er einen guten Überblick über Informationen und Daten auf der Baustelle erhält und somit haben wir einen Baukran zum Logistiker umgebaut.
IK-Bau NRW: Die möglichen Effektivitäts- und Produktivitätssteigerungen auf der Baustelle sind offensichtlich. Gleichzeitig gibt es jedoch ein großes Gefälle bei der Digitalisierung. In vielen Büros konnte sich bislang nicht einmal BIM durchsetzen. Wie können wir mit diesen unterschiedlichen Geschwindigkeiten umgehen?
Sigrid Brell-Cokcan: Das Problem im Moment ist, dass die Technologie, auf der Building Information Modeling (BIM) technisch beruht, eine 20 Jahre alte Technologie ist. Überspitzt formuliert, ist die technische Umsetzung von BIM nichts anderes als ein Excel mit einem guten 3D-Viewer. Mir stellt sich dabei die Frage, ob es immer noch eine menschliche Aufgabe sein muss, dass ich nach wie vor mit Tasten über eine Tastatur Daten und Informationen eingeben muss oder ob es nicht auch einen automatisierten Prozess geben kann. Ich glaube, dass sich die Technologie hinter BIM softwaretechnisch in den nächsten fünf bis zehn Jahren stark verändern wird. Denjenigen, die heute sagen, dass das Erlernen von BIM wirklich mühsam ist, gebe ich völlig recht. Aber ich glaube, dass wir in fünf Jahren mit BIM arbeiten werden, wie wir heute mit ChatGPT arbeiten. Es wird nicht mehr notwendig sein, Modelle manuell aufzubauen, sondern es wird eine ontologische, KI-basierte Grundlage geben. Es ergibt für mich keinen Sinn, für jedes Bauteil immer wieder die gleichen Informationen zu zeichnen, wenn ich über die Semantik, also das Wissen einer Wand verfüge. Und wenn man die Semantik und das Wissen dieser Wand teilt, ist eine KI in der Lage, diese Wand automatisiert darzustellen. Warum sollte der Mensch als Wissensträger diesen Hilfsdienst ausführen? Ja, das bedeutet, dass es sehr viele Veränderungen geben wird, auch durch den Druck der KI.
IK-Bau NRW: Wird die Nutzung digitaler Technologien für den einzelnen Anwender in Zukunft einfacher oder schwieriger? Wie ändern sich die Anforderungen an die Aus- und Fortbildung des Einzelnen?
Sigrid Brell-Cokcan: Heute kann mir eine KI automatisch ein durchschnittlich guter Python-Code generiert werden, ohne dass ich überhaupt etwas von Python verstehen muss. Genauso haben wir vor 15 Jahren begonnen, Roboter anzusteuern, obwohl wir keine Experten in inverser Kinematik oder gar Robotik waren. Das heißt, Nutzer werden künftig nicht mehr bei null anfangen müssen, um alles von Grund auf aufzubauen. Aber wir werden Experten als Wissensträger brauchen, die die Ergebnisse kontrollieren und bewerten können.
IK-Bau NRW: Wer findet dann aber künftig noch die Fehler, wenn die Grundlage der digitalen Planung von einer KI erstellt wird?
Sigrid Brell-Cokcan: Ich erinnere mich noch gut, dass wir bei Bollinger und Grohmann Anfang der 2000er Jahre immer Leute hatten, die versucht haben, in den Berechnungsprogrammen händisch Dinge nachzurechnen, weil sie mit dem Ergebnis einfach nicht zufrieden waren und Software zu dem damaligen Zeitpunkt durchaus fehleranfällig war. Das heißt, wir werden die Ausbildung in Richtung Kritikfähigkeit verändern müssen. Wir müssen lernen, Ergebnisse kritisch zu hinterfragen. Aber schon im Schritt davor müssen wir die Eingaben kritisch überprüfen, denn ein Ergebnis einer Software kann maximal so gut sein wie die Eingabe der dafür notwendigen Informationen. Wir müssen vermitteln, mit welchen Grundlagen man mit einer KI ein 80-prozentiges Ergebnis erzielt, sodass man sich nur noch mit den restlichen 20 Prozenten der Perfektionierung auseinandersetzen muss und werden die ersten 80% nicht dem World Wide Web überlassen können, wo Nutzer durchwegs auch aus Spaß Eingabeinformation als „Falschinformationen“ verändern können. Das ist auch eine Frage der Kultur und der Philosophie, wie man mit neuen Entwicklungen umgeht. Während einige sagen, dass ChatGPT das gesamte Prüfungssystem an den Universitäten auf den Kopf stellen wird, gehen wir genau den umgekehrten Weg. Die Studierenden sollen für ihre Hausarbeit nicht ChatGPT verwenden, sie müssen es. Aber sie müssen in der Lage sein, nachweisen zu können, ob Informationen wahr oder falsch sind. Sie müssen die Angaben anhand tatsächlich relevanter wissenschaftlicher Erkenntnisse überprüfen können.
IK-Bau NRW: Werden sich vor diesem Hintergrund die Anforderungen an Studierende der Architektur und des Bauingenieurwesens in Zukunft ändern?
Sigrid Brell-Cokcan: Wir beobachten an der RWTH beim Internationalen Master Construction Robotics, dass das Zusammentreffen von Studierenden aus vier unterschiedlichen Fakultäten eine Bereicherung ist. Wir sehen auch, dass viele Absolventen es Studiengangs Maschinenbau in der Baubranche sehr erfolgreich sind. Das liegt auch daran, dass die Herausforderungen abwechslungsreicher und größer sind als das inkrementelle Verbessern einer Schraube oder eines Motors. Natürlich spielt auch der Paradigmenwechsel vom Verbrennungsmotor zum Elektromotor eine Rolle, der mittlerweile weltweit genauso gut wie in Deutschland gebaut wird. Viele Maschinenbauer setzen ihr Know-how jetzt bei der Robotisierung von Baumaschinen ein. Die Baubranche hat für hochqualifizierte Fachkräfte eine gewisse Anziehungskraft. Es gibt längst eine Berufswirklichkeit jenseits des Bauleiters, der in Gummistiefeln über die Baustelle watet. Die fortschreitende Digitalisierung und Maschinisierung spielen bei diesem Prozess eine große Rolle.
IK-Bau NRW: Wie wird der Bausektor Ihrer Vorstellung nach in fünf bis zehn Jahren aussehen?
Sigrid Brell-Cokcan: Meine Vision entspricht im Prinzip jener, die der Künstler Villemard zu Beginn der industriellen Revolution entworfen hat. In dieser Vision planen Ingenieure und Architekten nicht nur, sie kontrollieren und orchestrieren die Baustelle. Künftig werden sie das mit der Unterstützung intelligenter Maschinen als zusätzliche Teammitglieder tun. Wir werden so dem Fachkräftemangel entgegenwirken können und Qualität, Effizienz und Ressourcenverbrauch optimieren können. Wir werden so auch einen wichtigen Beitrag leisten können, dass das Wohnen in Zukunft bezahlbar bleibt. Die Baubranche befindet sich in einer Phase großer Herausforderungen, aber gerade deshalb in einer besonders spannenden Zeit, die sowohl jüngeren als auch erfahrenen Ingenieuren die Möglichkeit bietet, neues Wissen aufzubauen und vorhandenes Wissen zu teilen.
Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW
[Erstveröffentlichung im Kammer-Spiegel 09/2023]