Werdet wieder mutig: schafft Baukultur, sorgt für Lebensqualität

Werdet wieder mutig: schafft Baukultur, sorgt für Lebensqualität

Im Interview: Prof. Dr. sc.techn. Mike Schlaich ist seit 2004 ordentlicher Professor und Inhaber des Lehrstuhls für „Entwerfen und Konstruieren – Massivbau“ am Institut für Bauingenieurwesen der Technischen Universität Berlin und seit 1993 Partner bei schlaich bergermann partner (sbp), Beratende Ingenieure im Bauwesen. Mit Prof. Schlaich sprachen wir u. a. über Baukultur, Planungswettbewerbe, Nachhaltigkeit im Bauwesen und ingenieurtechnische Innovationen.

Prof. Dr. sc.techn. Mike Schlaich

IK-Bau NRW
Viele Ingenieure im Bauwesen tun sich mit dem Begriff Baukultur schwer und überlassen es nicht ungern anderen, ihn mit Inhalt zu füllen. Was bedeutet für Sie als Ingenieur konkret der Begriff Baukultur?

Mike Schlaich
Baukultur hat für mich mit Lebensqualität zu tun, in allen Bereichen des Lebens. Dazu trägt auch die Bundesstiftung Baukultur bei. Das tolle an dieser Stiftung ist, dass sie nicht nur die Repräsentanzbauten anspricht, sondern den Kreisverkehr, den U-Bahn-Eingang und die Unterführung. Doch es ist oft enttäuschend, was wir hier sehen. Man sollte sich über jeden S-Bahn-Tunnel, jeden Kreisverkehr freuen können. Bei jedem Einfamilienhaus, bei jeder Unterführung muss man sich mit der gleichen Liebe, Intensität und Sorgfalt seiner Aufgabe stellen. Der größte Fehler ist, wenn der Bauingenieur die Schönheit an den Architekten delegiert. Nach dem Motto das Tragwerk ist nach der Norm, andere kümmern sich um das Aussehen. Die Bauingenieure müssen sagen, mein Tragwerk ist wesentlich für den Ausdruck. Ich habe eine so außergewöhnliche Fußgängerüberführung, davor bleiben die Leute bewundernd stehen und diese darf dann auch etwas mehr kosten.

IK-Bau NRW
Aber wie verträgt es sich mit dem Anspruch des Ingenieurs, Baukultur zu schaffen, wenn bei Ausschreibungen viel zu oft „der Billigste“ den Zuschlag erhält?

Mike Schlaich
Ja, es ist äußerst ärgerlich, dass heute immer noch der Billigste gewinnt. Billig bezieht sich ja nur auf die Anschaffungskosten, man denkt dabei nicht auf Dauer. Es ändert sich zum Glück ein bisschen was, wenn man sich die Wettbewerbe anguckt, wo der Preis vielleicht nur noch 20 Prozent ausmacht, aber die Qualität, die Innovationskraft und die Erfahrung 80 Prozent. Wenn natürlich nur nach Preis vergeben wird, ist das der Untergang der Baukultur, das kann nicht gut gehen.

IK-Bau NRW
Warum haben öffentliche Auftraggeber im Hinblick auf Planungswettbewerbe oft Berührungsängste?

Mike Schlaich
Der Bürgermeister auf dem Dorf, der zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben eine Brücke bauen lässt, benötigt natürlich Hilfe. Wichtig ist die Qualität der Ausschreibung und die Qualität der Jury und wenn es um Ingenieurbauwerke geht, müssen auch Ingenieure die Jury leiten und Ingenieure die Ausschreibung machen. Aber dann müssen anspruchsvolle Bauten gefordert werden. Wichtig ist, dass alle Beteiligten bei den Kosten von Anfang an offen und ehrlich sind. Es weiß doch jeder, wie viele Euro eine Brücke pro m² kostet. Doch die Kosten werden oft so unrealistisch angesetzt, dass man den Wettbewerb am besten gleich lässt.

IK-Bau NRW
Wie wird die Sorge um Nachhaltigkeit, Klima und Umwelt das Bauen und die Arbeit des Ingenieurs verändern?

„Ohne Nachhaltigkeitsüberlegungen anzustellen, kann und darf man heute nicht mehr bauen.“

Mike Schlaich
Die Nachhaltigkeitsdiskussion hat einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Ohne Nachhaltigkeitsüberlegungen anzustellen, kann und darf man heute nicht mehr bauen. Das führt unter anderem dazu, dass das Bauen, das bislang prototypisch war, modular wird. Wir müssen künftig mehr mit Fertigteilen arbeiten, wir müssen mehr nach Katalog bauen, damit es rückbaubar wird. Gleichzeitig birgt das modulare Bauen die Gefahr der Eintönigkeit. Es darf kein Widerspruch sein, dass man diesen Paradigmenwechsel nutzt, um neuartig und schön zu bauen. Aber alles Neue im Bauwesen tut sich in Deutschland schwer. Das Bauwesen ist sehr konservativ. Deshalb wünsche ich mir einen Aufruf der Kammern an ihre Mitglieder: Nutzt die Gunst der Stunde und die Nachhaltigkeitsdiskussion und werdet wieder mutig. Macht schöne Sachen, schafft Baukultur, sorgt für Lebensqualität.

IK-Bau NRW
Können Sie Beispiele nennen, wie ingenieurtechnische Innovationen das Bauen nachhaltiger und ressourcenschonender gestalten können?

Ingenieurkammer-Bau NRW_Infraleichtbeton_Interview Mike Schlaich

Infraleichtbeton

Ingenieurkammer-Bau NRW_Betonoase_Interview_Mike Schlaich
Ingenieurkammer-Bau NRW_Betonoase_Interview_Mike Schlaich_2

Das erste öffentliche Gebäude aus Infraleichtbeton ist die Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung Betonoase in Berlin


Mike Schlaich
Die Zementherstellung ist für rund 10 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Weswegen sinnloser Betonverbrauch wie bei massiven Flachdecken überdacht werden muss.. Man baut heute so, weil diese Decken sich einfach und schnell errichten lassen und im Zweifel auch billiger sind. Jedoch nur, wenn man kurzfristig denkt, CO2 und Recycling vernachlässigt, Gewicht und Ressourcenverbrauch außer Acht lässt. Es kann nicht sein, dass wir 30 cm dicke Betondecken bauen, die leichter sein könnten, nur, weil sie billig sind. Wir benötigen leichte und effiziente Tragwerke und daran forschen wir: Wir spannen Decken vor mit Carbon. Wir haben eine Faltwerkdecke entworfen, die spannt über 9 m, ist nur 24 cm hoch und hat eine äquivalente Dicke von 6 cm. Das ist eine ingenieurmäßige Herausforderung, sieht cool aus und ist dauerhaft, modular und wieder verwendbar. Es ist kein Wiederspruch innovativ, baukulturell wertvoll und nachhaltig zu bauen. Bei den Wänden setzen wir auf Infraleichtbeton (ILC). Dieser wiegt weniger als 800 Gramm pro Liter und ist damit so leicht, dass er im Wasser schwimmt. Ersetzt man den Kies im Beton durch aufgeschäumtes Abfallglas oder Tonkügelchen, dann wird er leicht und wenn man dann noch Schaumbildner hinzufügt, wird der Beton porig, und sie haben tragende Wärmedämmung. Diese tragende Wärmedämmung kann das Wärmedämmverbundsystem ersetzen. Denn daraus entsteht später ein Berg von Sondermüll. Mit dem Infraleichtbeton kann man sich die Wärmedämmung sparen und das Bauen wird wieder richtig einfach. Die ersten Bauten aus ILC stehen und bewähren sich. Er besitzt das Potenzial für eine völlig neue, einfache Bauweise und ganz neue Tragwerke, d. h. Baukultur, nachhaltige Bauweise und einfaches Bauen schließen sich in keiner Weise aus.

IK-Bau NRW
In dem hörenswerten Podcast „10 Minuten Baukultur“ der Bundesstiftung haben Sie eingefordert, dass Ingenieure die Geschichte ihrer Bauwerke erzählen. Sie haben dabei die Fähigkeit zum Storytelling beinahe zu einem Definitionsmerkmal des modernen Ingenieurs erhoben. Manchen Ingenieuren bereitet es jedoch Mühe, die Geschichte ihrer Werke jenseits technischer Merkmale zu erzählen. Wie können auch etablierte Ingenieure lernen, sich dieser Herausforderung zu stellen?

Mike Schlaich
Natürlich ist bei manchem ein Standbein stärker ausgeprägt als das andere, das kann man dann auch nicht ändern. Es gibt halt Leute, die gerne rechnen und die weniger extrovertiert sind. Das ist Fakt und kein Drama. Es gibt große Ingenieure, die keine großen Redner sind. Ich persönlich fange in meinen Vorlesungen mit der Geschichte der Ingenieurbaukunst an, zeige den Studierenden wie spannend sie ist und welche Persönlichkeiten hinter dieser Geschichte stehen. Wir fordern die Studenten im ersten Semester auf, ein Bauwerk so zu studieren, dass sie es verstehen und lernen, den Kraftfluss zu lesen: Wo ist die Last, wo ist das Tragwerk und was ist Verkleidung. Dann trägt jeder Student seine Erkenntnisse vor. Im Verlauf des Studiums gibt es dann Entwurfsseminare, in denen es nicht nur um Statik geht. Die Studenten erläutern von der ersten Skizze bis zur Präsentation ihre Arbeiten und müssen am Ende erklären, wie sie zu ihrem Entwurf gekommen sind. Das machen die Architekten das ganze Studium lang, wir Bauingenieure üben das nicht oft genug.

IK-Bau NRW
Zu wenige junge Menschen entscheiden sich heute für ein Studium im Bereich des Bauingenieurwesens. Hat das Fach ein Imageproblem oder spielen auch handfeste sachliche Gründe die Hauptrolle?

Mike Schlaich
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir zu wenig Nachwuchs haben. In Berlin haben wir auf ca. 150 Studienplätze rund 600 Bewerber. Auch der Frauenanteil nähert sich den 50 Prozent. Natürlich suchen wir in unserem Büro auch Leute. Aber das Phänomen gibt es auch in anderen Branchen, in denen Fachleute gesucht werden. Leider ist es auch eine Tatsache, dass man im Bauingenieurwesen nicht so viel verdient wie in anderen Ingenieurberufen. Wichtiger ist jedoch die Frage, wie können wir als Bauingenieure vermitteln, dass wir tolle Aufgaben haben. In Spanien etwa hat der Bauingenieur das soziale Ranking eines Arztes oder Rechtsanwaltes. Die Spanier haben verstanden, dass die Bauingenieure wichtig sind. Deutschland ist das Land der Innovationen und die Bauingenieure hierzulande sollten noch mutiger und innovativer sein. Wir dürfen uns nicht an Normen und Vorschriften ketten.

Das Interview führte Dr. Bastian Peiffer, Pressesprecher der IK-Bau NRW


Mike Schlaich hat in Stuttgart und an der ETH Zürich Bauingenieurwesen studiert und 1989 an der ETH promoviert. Seit 1993 ist er Partner bei schlaich bergermann partner (sbp), Beratende Ingenieure im Bauwesen. Er ist Prüfingenieur für Baustatik und seit 2004 ordentlicher Professor und Inhaber des Lehrstuhls für „Entwerfen und Konstruieren – Massivbau“ am Institut für Bauingenieurwesen der Technischen Universität Berlin. In der Forschung beschäftigt er sich mit Leichtbau, derzeit vor allem mit dem Einsatz von Kohlenstoffmaterialien für ermüdungssichere, korrosionsfreie Brücken und weitgespannte Dächer sowie mit Infraleichtbeton als tragende Wärmedämmung für monolithische Sichtbetonbauten ohne zusätzliche Dämmstoffe. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Geschäftsführer von sbp verantwortet er international ausgezeichnete Brücken- und Hochbauprojekte. Er ist Co-Autor des Buches „Fußgängerbrücken – Konstruktion, Gestalt, Geschichte“ und Autor zahlreicher Veröffentlichungen.